EIN LINK WÄRE SCHON GENUG

Von Olia Lialina

Im September 1996 war ich als Autorin einer Webseite über das russische Parallele Kino zu einem Treffen der Liste Syndicate eingeladen, das in Rotterdam, im Rahmen des DEAF, des Dutch Electronic Art Festival, stattfand. Auf der Akkreditierung stand unter meinem Namen artist. Vorher hatte ich hauptsächlich als Filmkritikerin gearbeitet, über experimentelles Kino geschrieben und die Programme für den Filmklub Cine Fantom gemacht. Künstlerin war gerade drei Wochen lang. Als ich auf der Konferenz «Metaforum III» in Budapest mein neues Web-Projekt «My Boyfriend Came Back From The War» präsentierte, wurde ich eine berühmte Netz-Künstlerin - ein famous net artist (im weiteren FNA genannt). Ein interessanter und wichtiger Beruf. Im folgenden berichte ich über Erfahrungen und Beobachtungen, die ich in den letzten vier Jahren in dieser Umgebung gemacht habe.

KONFERENZEN. Nicht nur für mich begann alles mit einer Konferenz. Auch wenn es der Vorstellung von Journalisten, die über net art schreiben, widerspricht: Konferenzen spielen eine wichtige Rolle für FNAs. Ein net artist ist ein Künstler, der im Netz arbeitet, ein FNA ist ebenfalls ein Künstler, der im Netz arbeitet, doch hält er gleichzeitig bei internationalen Konferenzen Vorträge über sein Werk im Netz. Als Konferenz bezeichne ich jede Veranstaltung, bei der ein FNA einem Publikum gegenübersitzt, einen Computer vor sich und eine grosse Leinwand mit der Bildschirmprojektion hinter sich. So etwas kann im Rahmen einer beliebigen Veranstaltung - eines Filmfestivals, einer Medienausstellung, einer Buchmesse - stattfinden und muss nicht ausdrücklich als Konferenz deklariert sein. Das Reden und Präsentieren vor Publikum setzt bestimmte Fertigkeiten voraus. Ein FNA arbeitet nicht mit Power Point, sondern mit einem Browser, das heisst, er muss gleichzeitig reden, klicken und scrollen können. Er muss seinen Sprachrhythmus und die Länge seiner Präsentationen an die unterschiedlichen, zum Teil schnell wechselnden Übertragungsgeschwindigkeiten oder überlasteten Verbindungen anpassen können. Nur ein Anfänger-FNA lässt sich aus dem Konzept bringen, wenn die Verbindung komplett abgestürzt ist. Und nur ein Pseudo-FNA wird für seinen Auftritt eine Diskette oder eine CD mit einer Demo-Version seiner Website mitbringen, um sich vor derartigen Überraschungen zu schützen. Wenn man das Internet auf einer CD demonstriert, ist das etwa so, als würde man zu einer Schallplatte singen. Das Publikum verzeiht so etwas nicht. Konferenzen sind (vorläufig noch) die Haupteinnahmequelle und (wie üblich) ein Ort der Begegnung, zudem bieten sie Gelegenheit, Bilanz der einen oder anderen Periode in der Geschichte der Netzkunst zu ziehen (das hat sich so ergeben). Ausserdem sind Konferenzen die einzige Möglichkeit, zu Netzkunst etwas offline zu machen.

AUSSTELLUNGEN. Mit Ausstellungen verhält es sich genau umgekehrt. Netzkunst-Ausstellungen sind eine Unsäglichkeit im modernen Kunstbetrieb, auch wenn es ganz unterschiedliche Ausstellungen gibt und sie dank der Bemühungen von Kuratoren nicht alle gleich aussehen. Als Ausstellung bezeichne ich jede Veranstaltung, die der Netzkunst gewidmet ist - mit Ausnahme der Konferenzen. Worin liegt nun die Ursache für die Abneigung gegen Ausstellungen, aus welchem Grund ist eine Ausstellung für einen real net artist (RNA) eine inakzeptable Form der Präsentation? Netzkünstler haben ganz unterschiedliche Werdegänge; es gibt unter ihnen zeitgenössische Künstler und Medienkünstler, aber auch Videokünstler, Photographen und Designer. Niemand aus dieser Generation (für die ich der Genauigkeit halber die Abkürzung RNA1 vorschlage) hat mit dem Internet gearbeitet, bevor er lesen, schreiben und offline kommunizieren lernte. Ein RNA1 ist also gewohnt, in einem begrenzten Raum künstlerisch tätig zu sein und auszustellen. Trotz dieser Erfahrung arbeitet er mit dem weltumspannenden, globalen Netz, wendet sich an dessen Nutzer und ist so auf seine Art ebenfalls weltumspannend und global. Man muss es vielleicht anders formulieren: Dank seiner Erfahrung, dank seiner Vorstellung davon, was es heisst, in einem begrenzten Raum zu arbeiten und auszustellen, reagiert ein RNA1 besonders heftig auf den Versuch, diese Begrenzung durch die Präsentation von Netzkunst in Ausstellungen wiederherzustellen. Ausstellungen finden ebenfalls im Rahmen anderer Veranstaltungen - von Filmfestivals bis Konferenzen - statt, sind manchmal auch als eigene Veranstaltung konzipiert. Eine solche wurde im vergangenen Jahr im ZKM, Zentrum für Kunst und Medientechnologie, durchgeführt; es war eine ungeheuer grosse Ausstellung, die dem Traum vom Erfolg derartiger Unternehmungen ein Ende bereitete. Wie kam man überhaupt auf die Idee, Ausstellungen zu machen? Dahinter standen falsche Vorstellungen und Profitsucht. Falsche Vorstellungen deshalb, weil man annahm, Netzkunst bestünde einfach aus amüsanten Websites, interaktiv wie CD-ROM, nur moderner. Die Idee vom grossen Geld entstand Mitte der neunziger Jahre, als einige FNA auf Konferenzen grosse Reden darüber führten, ein Netzkunstwerk sei kein Exponat, es existiere ausserhalb der Strukturen von Galerien und Museen, es gehöre allen, es gebe keine Vermittler und keine Eintrittskosten. Der Kurator einer «Ausstellung» hätte also gute Chancen, das Budget für die Veranstaltung auf sein eigenes Honorar zu reduzieren. Das war der ganze Trick. Mehr oder weniger sympathisch und funktional waren und bleiben die «trägen» Ausstellungen. Das sieht folgendermassen aus: Irgendeine Offline-Veranstaltung verkündet, dass sie jetzt neben den Sektionen Film, Video, Performance etc. auch noch eine Sektion net art oder web art anbietet (wobei normalerweise keine Unterscheidung zwischen diesen beiden Begriffen gemacht wird - aber darum soll es hier nicht gehen), richtet die entsprechende Sektion auf ihrer Website ein und setzt dort Links auf ausgewählte Netzprojekte. Diese leben ihr Leben weiter, es gibt einfach einen Link mehr darauf. Je mehr Links, desto mehr Publikum. Das ist doch gut. Diese Praxis hat ein interessantes System gegenseitiger Anrechnung hervorgebracht. Eine Ausstellung setzt einen Link auf ein Projekt, im Ausstellungskatalog taucht der Name eines FNA auf, und der FNA seinerseits kann die Teilnahme an dieser Ausstellung in seinen Lebenslauf aufnehmen. Aber was hat das Ganze mit einem realen Ausstellungsraum zu tun? Natürlich gar nichts. Daher wird die «träge» Variante ein wenig angepasst: Um den konkreten Raum der Ausstellung irgendwie mit dem zu verbinden, was online abläuft, wird in der Galerie oder im Foyer ein Computer aufgestellt. Ein Browser ist offen und eine Webseite mit Links aufgerufen. Die natürlich niemand anschaut. Vielleicht klicken die Leute zwei, drei Mal, aber dann fragen sie lieber ihre E-Mail ab oder schauen die Wettervorhersage an. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn die Atmosphäre stimmt einfach nicht. Man geht ja auch nicht in eine Galerie und liest Bücher, selbst auf einer Buchmesse liest man keine Bücher. Die trägen Ausstellungen hatten keinen Erfolg, im Gegenteil: schmucklose Computer, bei denen an allen Seiten Kabel heraushängen, bringen einen Missklang in die üblicherweise von komplizierten Geräten und Konstruktionen begleiteten interaktiven Installationen. Es ist also an der Zeit, sich von der Idee der Ausstellung loszusagen und zu der bereits eingangs skizzierten Schlussfolgerung zu gelangen: Die einzige Möglichkeit, net art an einen Ort zu importieren, an dem daran interessierte Leute zusammentreffen, ist eine «Konferenz». Denn nur ein lebendiger FNA, lächelnd und arrogant, kann erklären, kommentieren, kann die Leute mitreissen und unterhalten. Nur der RNA1 selbst - und etwa nicht die Linksammlung auf seine Projekte - kann das Publikum mit Kompetenz und Ideen an die Kunst der Zukunft heranführen. Stattdessen aber haben die Kuratoren versucht, die Werke an die eingefahrenen, mehr schlecht als recht funktionierenden Praktiken anzupassen und die Galeriebesucher zu umschmeicheln. Die Resultate ihrer Bemühungen würde ich in zwei Kategorien einteilen: OBJEKT und ZOO. Das OBJEKT ist die um einen Computer herum arrangierte ästhetik: Auf dem Computer ist ein Browser installiert, darauf ist die Titelseite der Arbeit des Netzkünstlers zu sehen. An der Wand neben dem Computer ist ein Schild mit dem Titel der Arbeit angebracht, so wie es sich für ein Ausstellungsobjekt gehört. Als könnte man eine bestimmte Arbeit an einen konkreten Computer binden. Oder als könnte man so wenigstens verhindern, dass der Computer zum Surfen oder zur Abfrage der E-Mail benutzt wird. Im weiteren gibt es verschiedene Möglichkeiten: Um Aufsehen zu erregen, werden die Computer in komplizierten Kombinationen arrangiert, mit Samt umhüllt oder auf Postamente gestellt. Manchmal ist das blosse Dekoration, manchmal aber auch ein Denkmal für den Triumph des Kurators über die Vorstellungen des Künstlers. Einmal habe ich eine Installation mit einem über die Wand gleitenden Bildschirm und einer Fernbedienung gesehen, mit der man verschiedene Websites besuchen sollte. Das war prinzipiell unmöglich, aber das Bild dieser Wundermaschine ging durch alle Zeitschriften, die über die «Ausstellung» berichteten - weil es visuell ansprechend war. Ich habe gehört, dass es vor zehn Jahren mit der video art ganz ähnlich war; Videokassetten allein waren nicht interessant genug für eine Ausstellung, und so fingen die Künstler damit an, Videoinstallationen zu machen. Immer weiter weg von einem Betrachter, der sitzt und schaut, und immer mehr hin zu einem Besucher, der zwischen den Geräten herumgeht. Der Kurator oder Künstler, der aus einem Netzkunstwerk ein OBJEKT macht, reisst das Kunstwerk aus seinem Kontext heraus und und stellt so letztendlich ein primitiveres Kunstwerk aus. Das Kunstwerk wird flach; je umfangreicher das OBJEKT, desto lebloser wird das Kunstwerk. Wenn ich hier das OBJEKT beschreibe, dann denke ich dabei nicht an Werke von Medienkünstlern, die das Internet bei der Schaffung ihrer realen Objekte einsetzen. Darüber kann ich im Allgemeinen wenig sagen, da ich selten zu solchen Veranstaltungen gehe. Ein paar Mal hat es sich aber so ergeben, und ich habe an einem ZOO teilgenommen. Der ZOO ist die teurere Variante, die als Minimum Transport und Unterbringung des FNA an dem Ort verlangt, wo die Ausstellung stattfindet. Ein ZOO bedeutet, dass im Ausstellungsraum neben den anderen Exponaten ein Computer steht, es gibt ein Schild, einen Browser, eine Webseite - das übliche eben, dazu ein Stuhl und auf dem Stuhl, so eine Freude, der FNA selbst. Da sitzt er, fragt von Zeit zu Zeit seine Post ab, nicht von dieser Welt, er ist beschäftigt, sagt er, er macht Netzkunst. Euer Abgott, ihr könnt hinter ihm stehen, wenn ihr nicht zu schüchtern seid, ihn fragen, was net art ist und ob es stimmt, dass sie im letzten Sommer gestorben ist. Bei grossen Veranstaltungen wie AEC ist der ZOO sehr beliebt. Ich halte ihn auch nicht für besonders problematisch, bloss für sinnlos. Ich habe einmal erlebt, dass in der Situation ZOO plötzlich die Situation OBJEKT entstand (oder war das Ganze vielleicht raffiniert geplant?). Der Computer, auf dem ich eines meiner Projekte demonstrieren sollte, war der erste iMac auf dem Markt jenes Landes, und jeder, der die Galerie betrat, lief sofort darauf zu, ohne die anderen Exponate zu beachten.

DIE GALERIE. Diese Beobachtungen über die net art auf fremdem Territorium sind nicht besonders neu, vielleicht zweieinhalb oder drei Jahre alt, aber sie sind immer noch aktuell. Im Verhältnis zwischen Online-Werk und Offline-Präsentierung hat sich seither nicht viel geändert (aber vielleicht haben die unvernünftigen Versuche, Netzprojekte auf nicht mit dem Netz verbundenen Computern auszustellen, mittlerweile aufgehört). Doch langweilig wurde es bereits Anfang 1998. Die RNA1 reisten mit ihren Projekten, eins radikaler als das andere, von Konferenz zu Konferenz und beschrieben ihre Unabhängigkeit von Offline-Kunst-Institutionen, wofür sie dann von diesen Geld bekamen. Oder sie sassen in den ZOOS herum. Oder sie machten sich über die OBJEKTE lustig. Damals schrieb ich in gebrochenem, wütendem Englisch den Artikel «Cheap.art», dessen Grundgedanke darin bestand, Netzkunst sei nun lange genug billige Ware für alte Institutionen gewesen. Anstatt zweifelhaften Enthusiasmus zu entwickeln, sollte man besser versuchen, diesen Institutionen neue Strukturen entgegenzusetzen. Wie wäre es zum Beispiel, nicht Arbeiten und Ideen zu exportieren, sondern stattdessen die Beziehung Künstler-Galerie-Publikum (und zugleich auch die Beziehung Ware-Geld) online zu importieren? Damals entstand auch die «First Real Net Art Gallery» mit dem Namen Art.Teleportacia (art.teleportacia.org) - ein Ort im Netz, wo man Netzkunstwerke erwerben kann, für das elektronische office oder die private Webseite. Schliesslich kaufen Geschäftsleute auch Bilder für ihre Büros, wieso sollten sie also nicht über eine Verschönerung ihrer Internet-Auftritte nachdenken, überlegte ich mir im Juli 1998. Der ambitiöse Zusatz «First Real» sollte die Galerie von den Tausenden von net art galleries abgrenzen, die mit Netzkunst absolut nichts zu tun haben; dahinter verbergen sich Webseiten von Malern oder Photographen, die dort Reproduktionen ihrer Werke ausstellen und das WWW als elektronischen Katalog benutzen. Es gibt wahrscheinlich immer noch Leute, die diese Art der Präsentation von Material für net art halten. Die Galerie wurde mit der Ausstellung «Miniatures of the Heroic Period» eröffnet, bei der kleinere Arbeiten von fünf RNA1 zum Verkauf standen. Dazu gab es Artikel von Netzkritikern, die früher über die prinzipielle Unverkäuflichkeit von net art geschrieben hatten und jetzt erklärten, warum die eine oder andere Arbeit eine ideale Geldanlage und eine Bereicherung für jede Sammlung sei. Art.Teleportacia rechtfertigt bislang die in sie gesetzten kommerziellen Hoffnungen in keiner Weise. Ein Jahr nach der Gründung habe ich leider erst eine Arbeit verkaufen können, meine eigene. Da sie ausserdem von dem befreundeten Server entropy8zuper.org gekauft wurde, schätzte man das Ganze ungerechterweise als künstlerisches Hirngespinst ein. Zu Anfang versuchte ich, mit der Galerie die räumlichen Voraussetzungen eines Ausstellungssaales zu imitieren und sie mit dem passenden Interface eines Internet-Geschäftes zu versehen. Doch bereits nach wenigen Wochen hatte sich jede Abteilung der Galerie, office, order form und entrance einbegriffen, in ein Diskussionsforum verwandelt: Fragen wie Handel mit Netzkunst, Strategien und Taktiken des Sammelns, Probleme von Original und Kopie wurden diskutiert. In den Jahren 1999 und 2000 haben auch die wichtigen Museen begonnen, sich im grossen Stil mit Netzkunst im Netz selbst zu beschäftigen. Teure Online-Ausstellungen und Online-Projekte, Stipendien oder der vom SFMOMA, vom San Francisco Museum of Modern Art, gestiftete Preis für net art, der SFMOMA Webby Prize for Excellence in Online Art, in Höhe von 50 000 Dollar zeugen von ernsthaftem Interesse. Mit ArtBase, herausgegeben von der Netzzeitschrift Rhizome, gibt es mittlerweile ein Netzkunst-Archiv, das zwar noch in den Anfängen steckt, aber unter den Medienkuratoren und Medientheoretikern seines advisory panel sind bereits heftige Diskussionen im Gange. Sie vertreten konkurrierende Organisationen, doch sie alle sind interessiert an schnellen Lösungen für Probleme der Konservierung und Archivierung von Netzkunst. Für Art.Teleportacia haben sich in erster Linie Kuratoren von Museen für Gegenwartskunst interessiert, welche wissen, was es bedeutet, Dias, video art und CDs aufzubewahren. Aber was soll man mit net art anfangen? Wie soll man damit umgehen? Wie soll man etwas zu einem Teil der Kollektion machen, das man nicht im Regal aufbewahren kann? Es wäre alles wesentlich leichter, wenn net art einfach web art wäre, wenn also net art aus Hypertext-Seiten mit witzigen Animationen und Experimenten mit dem Browser bestünde (was auf die wenigen interessanten Projekte zutrifft). Dann könnte man die Arbeiten einfach kaufen und auf den Server des Käufers legen. Aber wie geht man um mit Werken, bei denen die Hauptsache keineswegs die Webseiten auf einem Server sind, sondern die Reise, die von dort ihren Ausgang nimmt und die man nicht kontrollieren kann? Ausdrücklich als Netzkunstwerke definierte Arbeiten widersprechen der Logik des Besitzdenkens. Der alten Logik des Besitzdenkens. Der alten Logik überhaupt. Es ist jedoch eine neue Logik im Entstehen begriffen, die man zum jetzigen Zeitpunkt noch formen kann. Ich würde empfehlen, dabei nicht von Hypothesen und Analogien zu existierenden Kunst-Praktiken auszugehen, sondern von konkreten Beispielen und aktuellen Ereignissen. Ich würde vorschlagen, in erster Linie die zweitrangigen Fragen zu diskutieren. Beispielsweise die Frage, was man mit der feedback email eines Projekts machen soll, nachdem der Künstler es verkauft oder archiviert hat. Dazu gibt es momentan eine Untersuchung auf der Webseite der Galerie. Die unterschiedlichen Reaktionen sind deshalb interessant, weil sie wie in einer Kettenreaktion immer wieder neue Fragen provozieren, die die Natur von Netzkunstwerken aufdecken. Oder ein anderes, nicht weniger wichtiges Detail: die Adresszeile. Ich habe die Aktivitäten von Museen und Galerien im Netz verfolgt, und dabei ist mir aufgefallen, dass Kuratoren zu einem Trick greifen, wenn sie ein gewünschtes Werk für eine Online-Ausstellung nicht auf ihren Server bekommen können. Sie setzen dann den Link auf dieses Werk so, dass es in einem neuen Fenster ohne location bar erscheint, das heisst, die URL, die Originaladresse des Projekts mit Ordner- und Dateinamen, verschwindet. So wird die Illusion von Eigentum erzeugt. Und das sieht dann nicht einmal nach Diebstahl aus. Man könnte sogar annehmen, die technische Information sei aus ästhetischen Gründen unterdrückt, damit sie das Kunsterlebnis nicht beeinträchtige. Tatsächlich ist aber der location bar nicht weniger wichtig als Text und Graphik. Die Adresszeile, das ist Name und Autor. Sie ist der Ort der Handlung und die Handlung selbst. Die wirkliche Handlung. Die sich im Netz nicht in animierten gifs und lustigen scripts konzentriert, sondern eben in der Adresszeile. Um das zu beweisen, habe ich im September 1999 in Art.Teleportacia die Ausstellung Location=Yes (art.teleportacia.org/Location_Yes) eröffnet, die neben Kunstprojekten auch andere Projekte vorstellt, bei denen der Hauptakzent auf der URL liegt: ungewöhnliche oder vieldeutige Domain-Namen, Animationen oder Dialoge in der Adresszeile, URL-Formalismus und URL-Barock. Die Exponate sind kommentiert und die Ausstellung wird ständig erweitert. Eine Online-Ausstellung bietet Kuratoren ein bislang unbekanntes Vergnügen insofern, als sie ohne zeitliche und räumliche Begrenzung arbeiten können; das Projekt muss nicht zu einem bestimmten Datum beendet werden, weil an seiner Stelle ein anderes eröffnet werden soll: es gibt Platz für alle. Zudem kann eine Online-Ausstellung im Lauf der Zeit erweitert oder verändert werden, ich behaupte sogar, sie kann nicht nur, sie sollte unbedingt verändert werden. Aber an diese neue Logik muss man sich noch gewöhnen. Und noch einmal: Keine Angst, einfach Links zu setzen! Der britische RNA1 Heath Bunting hat der Galerie Art.Teleportacia das von ihm entwickelte Projekt «Donate Net.Art» überlassen. Über diesen Service können Künstler grossen Museen und Kunstzentren ihre Arbeiten als Geschenk übergeben. Sie füllen ein juristisch einwandfreies Formular aus, und das Geschenkangebot landet im Briefkasten des für Internet-Projekte zuständigen Kurators der Organisation. Diesen Service gibt es seit über einem Jahr, mit Stolz (und Bedauern) teile ich mit, dass Art.Teleportacia bislang die einzige Organisation ist, die Links auf geschenkte Projekte setzt.

DAS MUSEUM Im März diesen Jahres habe ich als Fortsetzung meines Experimentes das «First Real Net Art Museum» (myboyfriendcamebackfromth.ewar.ru) eröffnet. Das ist ein Museumspantheon meines ersten Projekts «My Boyfriend Came Back From The War». Die Sammlung besteht aus zehn Interpretationen des Projekts von 1996, von verschiedenen Künstlern in unterschiedlichen Technologien und Genres gemacht: copy, remix, flash, audio, banner, action alert, VRML, txt, video. Einige dieser Versionen haben das Original an Popularität längst überholt. Im Museum gibt es ein Archiv, das ganz gewissenhaft alle Materialien sammelt, die in irgendeiner Form mit MBCBFTW zu tun haben. Eigentlich wollte ich damit die Tätigkeit wissenschaftlicher Mitarbeiter von Museen parodieren, doch dann hat mich die Begeisterung gepackt. Daneben gibt es noch einen kleinen Museumsshop, der T-Shirts von MBCBFTW verkauft. Der Zusatz First Real existierte übrigens nicht länger als einen Tag. Nachdem ich die Mitteilung verschickt hatte, bekam ich einige skeptische Reaktionen, die mir zu verstehen gaben, die Idee sei nicht neu. Ich war zuerst etwas verwirrt, musste dann aber zugeben, dass das stimmt; das Museum wurde sofort umbenannt in Last Real Net Art Museum. So ist es treffender, schliesslich wollte ich die Aufmerksamkeit auf etwas lenken, was vielleicht verschwindet. Heutzutage ist alles so seriös geworden, alles hat solche Ausmasse angenommen, dass es künftig kaum noch Projekte geben wird, bei denen der Künstler selbst als Kurator, Promoter, Museum und Kunstkritiker in einer Person agieren wird (bitte beachten Sie, dass ich diesen Artikel hier selbst schreibe, und nicht jemand anderes). Kaum jemand will bei einem ästhetisch so wichtigen Objekt wie einem Museum noch ohne flash-Leisten und andere web performances auskommen. Im Last Real Net Art Museum ist der Hintergrund grau, der Text ist schwarz, die Links sind dunkelblau, die aktiven Links sind rot. Ich finde, so kann man das Wesentliche besser betonen. Das Wesentliche aber ist, dass die kommende Generation von Netzmuseumsleuten gar nicht beabsichtigt, Ausstellungs- und Archivräume auf Links zu Arbeiten aufzubauen, die im ganzen Internet verstreut sind. Ich meinerseits habe nicht zufällig die anderen Künstler gebeten, ihre Versionen von MBCBFTW auf ihrem eigenen Server zu lassen. Ich halte es für sehr wichtig, dass die Autoren der Interpretationen ihre Arbeit jederzeit verändern oder sie einfach löschen können, wenn sie von der Arbeit oder der Idee als solcher genug haben. Mein Museum ist real. In ihm ist alles echt.

Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg